Zwillingsbeziehung: Meine Rolle als „Innenministerin“

Zwillingsrollen

Jahrelang habe ich habe mich neben meiner Schwester unsichtbar gefühlt. Überall wo wir auftauchten kamen die Leute zuerst auf sie zu. Ich war gefühlt ihr Schatten. Wenn ich in der Stadt alleine unterwegs war und mir Freunde von uns begegneten, fragten sie meist zuerst: „Wo ist denn deine Schwester?“ Das tat weh und hat mich verletzt. Sie konnte schon immer leichter auf Menschen zugehen, sich durchsetzen und behaupten. Sie knüpfte für uns die Kontakte. Sich in Szene zu setzen war einfach Ihrs – ich bewunderte sie dafür.

Wie kommt das?

Zwillinge haben, trotz ihrer Ähnlichkeit verschiedene Charaktere – ja, auch eineiige Zwillinge sind nicht gleich! So ist meist einer der Dominantere und der andere der Schüchterne. Zwillinge nutzen dies, indem sie, in stiller Übereinkunft, ihre jeweiligen Stärken in soziale Funktionen oder Rollen innerhalb der Zwillingsbeziehung aufteilen.

Manche Wissenschaftler sprechen hier auch von Außen- und Innenminister. Der Außenminister ist für die „Repräsentation“ der Zwillinge zuständig. Er hat die extravertierte Rolle, knüpft für sie Freundschaften und pflegt diese. Er übernimmt für beide Zwillinge die Kommunikation nach außen. Oftmals fällt es ihm leichter, sich aus der Zwillingsbeziehung zu lösen und wird schneller selbständig. Der Innenminister hingegen ist für das Innenleben der Zwillinge zuständig. Er kümmert sich um die Zwillingsbeziehung und agiert im Hintergrund. Häufig ist er für den anderen Zwilling die erste Anlaufstelle, wenn er Probleme hat, noch bevor die Eltern einbezogen werden.

Das klingt auf den ersten Blick vielleicht ganz niedlich. Immerhin scheinen beide sich dadurch hervorragend zu ergänzen. Das tun sie auch – jedoch nicht immer ohne Folgen…..!

Meine Realität

Als Kind hörte ich sehr oft von den Eltern oder Verwandten Worte wie: „Deine Schwester hat bei euch das Kommando,“ „Du bist die Stillere von euch beiden,“ „Was deine Schwester sagt, machst du.“ Auch die folgende Geschichte, die mir von unserer „Ziehtante“ Zeit ihres Lebens erzählt wurde, macht meine damalige Rolle sehr deutlich:

„Als du ca. 2 oder 3 Jahre alt warst, kamst du ins Wohnzimmer gelaufen. Ich fragte dich was du spielen möchtest. Daraufhin hast du geantwortet: „Da muss ich erst meine Schwester fragen“ und bist zu ihr gerannt. Das war so süß!“

Ganz ehrlich? Was bitte schön ist daran süß! Vielmehr hätte ihr auffallen müssen, dass hier etwas nicht stimmt und gründlich in Schieflage geraten war.

Dieses Verhalten, erst meine Schwester fragen zu müssen, ihr die Entscheidungen zu überlassen, hatte sich bei uns schon in sehr frühen Jahren – stillschweigend – eingeschlichen.

In jungen Jahren ist mir ihre Dominanz nicht bewusst gewesen. Ich fand es nicht schlimm, hatte ich mich doch daran gewöhnt. Schließlich kannte ich es nicht anders. Außerdem war es für mich bequem, da ich einfach meiner Schwester folgte: Wir heckten zusammen Ideen aus, sie setzte sie mit meiner Rückendeckung um. Sie entschied für uns was wir anzogen oder welche Hobbies wir machten – ich war dabei!

Fatale Folgen….

Als ich in die Pubertät kam und meine Schwester sich von mir abnabeln wollte, stand ich plötzlich ganz alleine da und bekam große Probleme:

  • Ich konnte keine Entscheidungen alleine treffen
  • Ich wusste nicht welche Klamotten ich mag
  • Ich war es nicht gewohnt auf Leute zuzugehen und Freundschaften zu schließen
  • Ich sah mich stets als die eine Hälfte des Ganzen – die andere Hälfte fehlte mir enorm
  • Ich wurde zum ersten Mal depressiv

Damals war ich fest davon überzeugt, dass ich die schwächere Hälfte von uns bin, die alleine nicht existenzfähig war. Meine Stärken brauchte meiner Meinung nach kein Mensch. Meine Schwester hingegen, so dachte ich, hatte die bessere Hälfte erwischt, die lebensfähigere und wichtigere. Diese quere Einstellung ließ mich ein paar Jahre später in eine Katastrophe schlittern.

Ich kann es doch!

Viele Jahre später, als ich ganz alleine nach Hamburg zog, stellte ich fest, dass auch ich Freundschaften knüpfen und meine Meinung vertreten konnte. Ich traf eigene Entscheidungen und wurde unabhängig – ich blühte regelrecht auf!

Mittlerweile weiß ich, dass ich hochsensibel und introvertiert bin, aber auch über extravertierte Anteile verfüge. Dass es normal und gut ist, so zu sein. Ich genieße es, meine extravertierte Seite ausleben zu können, weiß aber auch, dass ich mich danach für ein paar Tage in die Ruhe zurückziehen muss. Genauso mag ich es, die „Innenministerin“ zu sein. Denn durch meine hochsensible Seite kann ich meiner Familie und Freunden, sowie meinen Kunden u. a. größtmögliche Empathie entgegenbringen, Gefühle und Stimmungen wahrnehmen, bevor andere dies tun.

Reflexionsfragen für dich:

  • Kennst du solche Rollen innerhalb der Zwillingsbeziehung?
  • Steht es der Entwicklung zu einer eigenständigen Persönlichkeit im Wege (z.B. fehlende Entscheidungsfähigkeit)? Dann solltest du handeln!

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