– Ein Text für betroffene Eltern
Der Tod eines Kindes gehört zu den tiefgreifendsten Verlusten, die Eltern erleben können – unabhängig davon, ob es sich um einen Einling oder einen Zwilling handelt. Doch wenn ein Zwilling stirbt, ist die Situation noch einmal besonders: Denn da ist nicht nur der Verlust, sondern auch das Weiterleben mit dem anderen Kind – dem verbliebenen Zwilling.
Viele Eltern von Zwillingen berichten von einem inneren Spannungsfeld: Sie trauern um das verstorbene Kind – und sollen zugleich für das überlebende Kind da sein. Gerade bei eineiigen Zwillingen kann der Alltag dann zu einer ständigen Erinnerung werden: Der Blick auf das eine Kind erinnert immer auch an das andere. Und genau das macht es so schwer.
Wenn die Trauer widersprüchlich ist
Als Mutter oder Vater freust du dich vielleicht über das überlebende Kind – und fühlst dich gleichzeitig tief traurig, leer oder schuldig wegen des Verlustes. Manche Eltern empfinden in dieser Situation auch Ambivalenz: Sie wenden sich dem überlebenden Kind zu, während sie innerlich vom Schmerz über das verlorene Kind gelähmt sind. Oder sie wenden sich – aus Überforderung oder Schmerz – ein Stück weit ab.
In manchen Familien richtet sich die Aufmerksamkeit dann stärker auf andere Geschwisterkinder – besonders, wenn der überlebende Zwilling in seiner Ähnlichkeit oder seinem Verhalten stark an das verstorbene Kind erinnert. Das geschieht oft nicht bewusst – und doch kann es die Beziehung zum überlebenden Zwilling nachhaltig beeinflussen.
Wenn Angst den Alltag bestimmt
Vor allem, wenn ein Zwillingskind bereits während der Schwangerschaft oder im frühen Kindesalter stirbt, neigen manche Eltern dazu, das überlebende Kind stark zu behüten. Diese Angst um das verbleibende Kind ist verständlich – und doch kann sie langfristige Folgen haben.
Viele betroffene Kinder entwickeln später große Schwierigkeiten, sich vom Elternhaus zu lösen. Manche erleben eine starke Trennungsangst, weil sie unbewusst die Angst der Eltern übernommen haben. Andere entwickeln das Gefühl, sich besonders beweisen zu müssen – um den „verlorenen Teil“ zu ersetzen oder die Liebe der Eltern zu verdienen. Auch riskantes Verhalten, das scheinbar nicht erklärbar ist, kann so seinen Ursprung haben.
Wenn Ablehnung oder Schuldgefühle im Spiel sind
Nicht alle Eltern empfinden nur Schutzimpulse. Einige fühlen sich schuldig – sei es wegen medizinischer Entscheidungen, schwieriger Geburten oder Situationen, die sie nicht verhindern konnten. Diese Schuld kann sich in Selbstvorwürfen zeigen – oder auch in ambivalenten Gefühlen gegenüber dem überlebenden Kind.
Besonders herausfordernd ist es, wenn der verstorbene Zwilling bei einem Unfall ums Leben kam, bei dem auch das andere Kind anwesend war. In solchen Fällen können – bewusst oder unbewusst – Schuldzuweisungen entstehen. Das verletzt nicht nur das überlebende Kind, sondern erschwert auch den Trauerprozess aller Beteiligten.
Und dann sind da noch die Reaktionen von außen: Sätze wie „Zum Glück haben Sie ja noch ein Kind“ oder „Sie müssen jetzt stark sein für das andere Kind“ sind gut gemeint – aber tief verletzend. Sie lassen das Verstorbene verblassen und überfordern das überlebende Kind mit einer Rolle, die es nie gewollt hat.
Was Eltern helfen kann
Wenn du dich in dieser Situation wiedererkennst, kann es entlastend sein zu wissen: Du bist nicht allein. Es gibt Wege, mit der Trauer umzugehen – und deinem überlebenden Kind dabei gleichzeitig gerecht zu werden.
Hier findest du einige Möglichkeiten, wie du als Mutter oder Vater deinen eigenen Weg finden kannst:
Wenn dein Zwillingskind vor oder kurz nach der Geburt verstorben ist:
- Bewahre das Ultraschallbild mit beiden Babys auf.
Es erinnert an die Existenz beider Kinder und kann dir und deinem Kind helfen, den verlorenen Zwilling im Herzen zu behalten. - Gib dem verstorbenen Zwilling einen Namen.
So wird aus einem „verlorenen Teil“ ein geliebter Mensch, der seinen Platz in eurer Familie hatte. - Erzähle deinem Kind von der Zwillingsschwangerschaft.
Viele überlebende Zwillinge spüren, dass etwas fehlt – auch wenn sie sich nicht erinnern können. Ermutige dein Kind, Fragen zu stellen und Gefühle zu äußern. - Verabschiede dich bewusst.
Rituale, ein Brief oder eine kleine Zeremonie helfen, den Trauerprozess zu unterstützen – für dich selbst und für die Familie. - Bewahre Erinnerungsstücke auf.
Eine Haarlocke, ein kleines Kleidungsstück oder ein Foto können Trost spenden – auch viele Jahre später.
Wenn dein Zwillingskind vor oder kurz nach der Geburt verstorben ist:
- Sprecht als Familie über Erinnerungen.
Haltet schöne Momente wach – beim Betrachten von Fotos, beim Erzählen lustiger Anekdoten oder durch kleine Rituale an Geburtstagen und Jahrestagen. Das gibt Halt und verbindet euch als Familie. - Ermutige den überlebenden Zwilling, über Gefühle zu sprechen.
Viele Kinder und Jugendliche trauen sich nicht, ihre Trauer zu zeigen, um ihre Eltern zu „schonen“. Schaffe Raum für ehrliche Gespräche – und signalisiere: „Ich halte deine Gefühle aus.“ - Vermeide unbewusste Vergleiche.
Auch wenn du den verstorbenen Zwilling im Herzen trägst, achte darauf, den überlebenden nicht zum „Ersatz“ zu machen oder zu idealisieren. Er darf ganz er selbst sein. - Sucht gemeinsam nach Wegen, den verlorenen Zwilling zu ehren.
Das kann ein Gedenkort sein, ein besonderes Fotoalbum oder ein Ritual wie das Anzünden einer Kerze. - Sei achtsam mit deinen Erwartungen.
Manche Kinder und Jugendliche spüren unbewusst den Druck, die „Lücke“ füllen zu müssen. Lass sie wissen: Du liebst sie so, wie sie sind – nicht wegen, sondern trotz des Verlusts.
Und ganz gleich, wann dein Kind gegangen ist:
- Schenke dem überlebenden Zwilling deine ungeteilte Aufmerksamkeit.
Nicht als Ersatz, sondern als der Mensch, der er ist. Zeige ihm, dass er geliebt wird – mit all seinen eigenen Bedürfnissen und Gefühlen. - Hole dir Unterstützung.
Wenn du das Gefühl hast, deine Beziehung zum überlebenden Kind leidet oder deine Partnerschaft droht zu zerbrechen, ist es vollkommen legitim, dir Begleitung zu holen. Das ist kein Zeichen von Schwäche – sondern von Fürsorge für dich und deine Familie.
Du darfst beides fühlen: Liebe und Trauer
Vielleicht ist es der schwerste Spagat deines Lebens: Du trauerst – und sollst gleichzeitig da sein für dein Kind. Doch beides darf nebeneinander bestehen. Du darfst traurig sein und gleichzeitig Freude empfinden über das Leben deines Kindes. Du darfst an das Verstorbene denken, ohne dem Lebenden etwas zu nehmen.
Wenn du spürst, dass dich dieser Weg überfordert oder du dir Unterstützung wünschst, melde dich gern bei mir. Ich begleite Eltern, die ein Zwillingskind verloren haben – mit Empathie, Verständnis und einem geschützten Raum für das, was dich bewegt.
👉 Hier kannst du ein Gespräch anfragen
Ich bin für dich da.
Deine Ilka
Ausblick Teil 7: Auswirkungen des Zwillingsverlusts auf spätere Beziehungen
Im nächsten Teil geht es um die Langzeitfolgen des Verlustes auf spätere Beziehungen – ob in Freundschaften, Partnerschaften oder zur Herkunftsfamilie.
Was bedeutet es, eine so prägende Bindung zu verlieren – und wie wirkt sich das auf spätere Bindungsfähigkeit und Vertrauen aus?
👉 Teil 7: Auswirkungen des Zwillingsverlusts auf spätere Beziehungen