Der Verlust im Mutterleib – Wenn das Zwillingsleben endet, bevor es beginnt

Der Verlust eines Zwillings – ob vor der Geburt, in der Kindheit oder im späteren Leben – ist ein tiefgreifendes Erlebnis. In dieser Blogserie zeige ich dir, wie unterschiedlich sich dieser Verlust auf das Leben des überlebenden Zwillings auswirken kann. Die Serie umfasst acht Teile:

  1. Der Verlust im Mutterleib – Wenn das Zwillingsleben endet, bevor es beginnt
  2. Der Verlust eines Zwillings in der Kindheit – Wenn das „Wir“ zerbricht
  3. Zwillingsverlust in der Jugend: Wenn der Tod des Zwillings die Identität erschüttert
  4. Der Verlust eines Zwillings im Erwachsenenalter – Wenn der engste Mensch geht
  5. Der Verlust eines Zwillings im Alter – Wenn das Leben eine Lücke lässt
  6. Eltern, die ein Zwillingskind verloren haben
  7. Auswirkungen des Zwillingsverlusts auf spätere Beziehungen
  8. Ein abschließender Blick auf das Thema Zwillingsverlust

Jeder Teil beleuchtet die jeweilige Lebensphase und zeigt dir, was du als betroffener Zwilling oder als Elternteil tun kannst, um mit dem Schmerz umzugehen.

In diesem ersten Teil erfährst du:

  • Warum so viele Menschen gar nicht wissen, dass sie als Zwilling zur Welt kommen sollten
  • Was beim Verlust eines Zwillings im Mutterleib im Körper und auf seelischer Ebene passiert
  • Warum der Verlust auch später in der Schwangerschaft tiefgreifende Auswirkungen hat
  • Woran du erkennen kannst, ob du betroffen bist
  • Welche Schritte dir helfen können, mit dieser frühen Wunde umzugehen

Vielleicht warst du nicht allein

Stell dir vor, du warst nicht allein im Bauch deiner Mutter. Ganz am Anfang wart ihr zu zweit. Zwei Herzen, zwei Wesen, die sich berühren, kuscheln, nonverbal miteinander kommunizieren. Doch nur du hast es geschafft, auf die Welt zu kommen. Der andere ist gegangen, bevor das Leben richtig begann. Vielleicht weißt du davon. Vielleicht hast du nur dieses diffuse Gefühl, dass irgendetwas fehlt.

Viele Menschen wissen gar nicht, dass sie als Zwilling begonnen haben. Studien zeigen, dass etwa jede vierte bis fünfte Schwangerschaft als Mehrlingsschwangerschaft startet. Doch oft bleibt es unbemerkt, weil sich einer der Embryonen früh wieder verabschiedet. „Vanishing Twin“ nennt die Medizin dieses Phänomen. Für die meisten Ärzte ist es ein medizinischer Befund. Für dich kann es eine seelische Narbe sein, die du dein ganzes Leben mit dir trägst.

Wenn der Verlust spürbar ist

Manchmal geschieht der Verlust aber auch später in der Schwangerschaft. Dann bekommt die Mutter den Verlust bewusst mit – etwa durch eine medizinische Diagnose, einen auffälligen Ultraschall oder eine stille Geburt. Besonders belastend ist es, wenn das verstorbene Kind bis zur Geburt mit ausgetragen wird und der überlebende Zwilling die ganze Zeit neben ihm ausharren muss.

In solchen Fällen ist es wichtig, dass der Verlust nicht verschwiegen wird. Sprich früh mit deinem Kind über den verstorbenen Zwilling, wenn du betroffen bist. Trauert gemeinsam und gebt dem verstorbenen Kind einen Platz in eurem Familiengedächtnis. Ein Kuscheltier kann dem überlebenden Zwilling als „stellvertretender Begleiter“ helfen – als Verbindung zum verlorenen Zwilling, bis er ihn nicht mehr braucht.

Je offener Eltern mit dem überlebenden Zwilling über den Verlust sprechen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass dieser die Erfahrung ohne außergewöhnliches Trauma und Schuldgefühle verarbeiten kann.

Vielleicht kennst du dieses Gefühl

Du fühlst dich manchmal einsam, obwohl du Menschen um dich hast. Du hast Angst vor Trennung oder Abschied, ohne genau zu wissen, warum. Du kannst schwer einschlafen, hast eine unerklärliche Traurigkeit in dir oder einen tiefen Schmerz, den du nicht einordnen kannst. Vielleicht hast du das Gefühl, nicht ganz zu sein. Als würde etwas fehlen. Als hättest du einen Teil von dir verloren.

Diese Gefühle sind kein Zufall. Wenn du dein Leben im Bauch deiner Mutter mit einem Zwilling begonnen hast, dann war da von Anfang an eine Verbindung, die tiefer ist als alles, was danach kam. Du hast gespürt, dass da jemand war. Du hast ihn berührt, gehört und vielleicht auch nonverbal mit ihm kommuniziert. Und dann war er weg.

Was im Mutterleib passiert

Studien haben gezeigt, dass Zwillinge bereits im Mutterleib aufeinander reagieren. Sie machen gemeinsame Erfahrungen, merken sich Dinge, lernen und nehmen bewusst wahr, was um sie herum passiert. Sie interagieren miteinander, indem sie sich berühren, am Daumen des anderen saugen, sich wegschubsen, kuscheln und um Platz und Nahrung konkurrieren. Sie teilen denselben Raum, hören dieselben Geräusche und nehmen die gleichen Gefühle der Mutter wahr.

Diese frühe Beziehung beeinflusst ihr späteres Leben und führt dazu, dass Zwillinge eine sehr enge Bindung zueinander entwickeln. Diese Bindung ist die erste primäre Bindung, die Einlinge erst nach der Geburt zur Mutter aufbauen.

Die Zwillinge wissen in dieser Phase noch nicht, dass sie zwei eigenständige Wesen sind. Vielmehr nehmen sie sich als miteinander verschmolzen wahr. Der andere ist Teil ihres „Ich“.

Mehr zur Zwillingsbindung und wie sie sich entwickelt, liest du hier.

Warum der Verlust so tief sitzt

Wenn dann einer der Zwillinge stirbt, bedeutet das für den anderen ein seelisches Trauma. Ohne Worte, ohne Verstehen. Nur ein Schock. Der Zwilling, der bleibt, versteht nicht, was passiert ist. Aber er spürt: Etwas fehlt. Etwas stimmt nicht.

Der verbliebene Zwilling ist verwirrt, weil mit dem verstorbenen Zwilling auch ein Teil seines Selbst gegangen ist. Er fühlt sich unvollständig und sucht später unbewusst nach dem anderen.

Diese Erfahrung wird im Körper gespeichert. Im Nervensystem. Im Herzen. Und sie wirkt weiter. Oft ein Leben lang.

Was das mit deinem Leben macht

Viele überlebende Zwillinge wissen nicht, dass sie einmal zu zweit waren. Und doch zeigt sich der Verlust in vielen Facetten:

  • Du suchst dein Leben lang nach jemandem, der dich so versteht wie „der andere“ damals.
  • Du hast Schuldgefühle, obwohl du nichts falsch gemacht hast.
  • Du kannst schwer loslassen, weil Trennung sich für dich bedrohlich anfühlt.
  • Du fühlst dich oft wie „nicht richtig“ oder „nicht ganz“.
  • Du bist besonders feinspürig, hast aber Schwierigkeiten, deine Gefühle zu sortieren.

Manche Erwachsene berichten von imaginären Freunden in ihrer Kindheit. Andere erinnern sich an eine stille Traurigkeit, die sie nie verstanden haben. Eltern erzählen von Babys, die viel schreien, schlecht schlafen oder sich kaum beruhigen lassen.

Kinder, die ihren Zwilling im Mutterleib verloren haben, können Angst vor dem Verlassenwerden entwickeln, Körperkontakt meiden oder sogenannte „Schreibabys“ sein. Manche Kinder entwickeln sich als Einzelgänger und andere wiederum haben ein Kuscheltier, das für sie existenziell wichtig ist – weil es für sie unbewusst als Zwillingsersatz dient.

Tipps für Eltern

  • Redet über den Verlust: Wenn ihr von einem frühen Verlust wisst, sprecht offen darüber – auch wenn das Kind sich nicht erinnern kann.
  • Trauert gemeinsam: Findet Rituale, um gemeinsam um den verlorenen Zwilling zu trauern.
  • Kuscheltier als Begleiter: Gebt eurem Kind ein Kuscheltier, das es überallhin begleiten darf – als symbolische Verbindung zum verlorenen Zwilling.
  • Gebt dem Zwilling einen Namen: Das kann helfen, ihn als Teil der Familie sichtbar zu machen.

Tipps für (erwachsene) überlebende Zwillinge

  • Zeichne eure Bindung: Male Bilder von dir und deinem verlorenen Zwilling.
  • Schaffe Erinnerungsorte: Auch wenn du keine bewusste Erinnerung hast – ein Gedenkstein, eine Kerze oder ein Ritual kann dir helfen.
  • Sprich darüber: Erzähle jemandem davon – einem Menschen, der zuhört, ohne zu urteilen.
  • Hole dir Unterstützung: Du musst diesen Weg nicht allein gehen. Es darf leicht(er) werden.

Wie ich dich begleiten kann

Ich arbeite als Coachin und Expertin für Zwillingsbeziehungen mit Eltern und erwachsenen Zwillingen. Auch wenn ich nicht ausschließlich mit alleingeborenen Zwillingen arbeite, begegnen mir in meinen Coachings und Beratungen immer wieder Menschen, die eine solche frühe Verlusterfahrung gemacht haben.

Wenn du das Gefühl hast, dass bestimmte Themen immer wieder auftauchen, du dich leer fühlst oder dich nach dem fehlenden Zwilling sehnst – dann lohnt sich ein genauerer Blick. Manchmal liegt darin der Anfang für etwas Neues.

👉 Hier kannst du ein kostenloses Erstgespräch anfragen

Ich freue mich auf dich.

Deine Ilka

Ausblick Teil 2: Wenn ein Zwilling in der frühen Kindheit stirbt

Im nächsten Beitrag geht es um den Verlust in den ersten Lebensjahren: eine Phase, in der Zwillinge sich bereits sehr bewusst wahrnehmen – aber noch nicht in der Lage sind, komplexe Gefühle zu verarbeiten oder auszudrücken.
Was bleibt, wenn Worte fehlen, aber die Verbindung schon spürbar war?

👉 Teil 2: Der Verlust eines Zwillings in der Kindheit – Wenn das „Wir“ zerbricht

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